Als das 20. Jahrhundert noch jung war, da wurde Nord-Amerika von den Klängen des Ragtime regiert. Auch nach Europa schwappte eine Welle der Ragtime-Begeisterung und Komponisten wie Claude Debussy, Erik Satie, Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Darius Milhaud oder Paul Hindemith erwiesen diesem frischen und lebendigen Musikstil ihre klingenden Referenzen.
Doch während die Stücke dieser Komponisten immer noch lebendig sind und in Konzerten erklingen (man denke beispielsweise an Debussys „Golliwogg’s Cakewalk“ oder Strawinskys Ragtime in der „Geschichte vom Soldaten“), sind die Musiker und Komponisten der Ragtime-Ära in Europa fast unbekannt geblieben. Die große Ausnahme stellt allerdings der afroamerikanischen Komponist Scott Joplin dar, der schon zu seinen Lebzeiten als “King of Ragtime” galt und dessen Musik seit den 1970er Jahren durch den Hollywood-Film „The Sting“ (dt. „Der Clou“) wieder zu großer Popularität gelangte.
Der Ragtime entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts, im Zuge des Aufeinandertreffens verschiedener Kulturen in Nordamerika. In musikalischer Hinsicht zeigte sich der Ragtime als ein faszinierender Schmelztiegel, in dem sich die unterschiedlichsten musikalischen Einflüsse zu einem neuen und erfrischend lebendigen Stil zusammenfanden: Europäische Volks-, Kunst- und Tanzmusik mischten sich mit afrikanisch inspirierten Worksongs, Spirituals und Bluesklängen.
Der Ragtime war auch der erste populäre Musikstil Nordamerikas. Menschen aller Hautfarben – egal ob schwarz oder weiss, jung oder alt, männlich oder weiblich, Amateure oder Profis – spielten und liebten diese Musik. Die Veröffentlichung des ersten Ragtime-Stücks in Notenform im Jahre 1897 sowie der Tod Scott Joplins 1917 rahmen das Ragtime-Zeitalter gleichsam ein. Nach 1917 – bezeichnenderweise der Eintritt Amerikas in den Ersten Weltkrieg – musste der Ragtime einer neuen Mode weichen: dem Jazz. In den 40er und 50er Jahren wuchs aber wieder das Interesse des Publikums für die Wurzeln der amerikanischen Musik. Das führte in den 60er und 70er Jahren zu einer regelrechten Ragtime-Renaissance. Zahllose Ragtime-Stücke wurden wiederentdeckt oder neu veröffentlicht. Sie zeigten, wie vielschichtig und abwechslungsreich der Ragtime sein konnte. Neben dem zweifellos genialen Scott Joplin richtete sich das Interesse nun auch endlich auf die vielen anderen afroamerikanischen und weißen Ragtime-Komponisten und Komponistinnen.
Ähnlich dem zeitgleich in Lateinamerika entstandenen Tango ist der Ragtime mit all seiner Lebendigkeit doch in einer Ausdruckswelt angesiedelt, die feinfühlig das Gleichgewicht hält zwischen Überschwang und Melancholie. Sicherlich ist dies auch ein Grund dafür, dass sich der Ragtime noch nach über 100 Jahren jenseits aller Moden und Stilrichtungen weiter einer großen Publikumsgunst erfreut: Denn welchem Menschen ist das Pendeln zwischen solchen Extremen nicht auch bekannt?